Wege finden

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Ausgehend von den vorgenannten Grundannahmen und auf der Grundlage der angeführten pädagogischen Theorien und Hintergründe ist es mir in der Begleitung und Assistenz der mir in meiner Tätigkeit anvertrauten Kinder und Jugendlichen wichtig, mich mit ihnen auf einem gemeinsamen Weg zu wissen.

Zuerst gilt es, das Kind so anzunehmen, wie es ist. Mit seinen Möglichkeiten und Grenzen, mit seinen Schwierigkeiten und Problemen. Die Befriedigung der seelischen Bedürfnisse muss überprüft und das gezeigte Verhalten muss analysiert werden. Dabei ist es wichtig zu beachten, dass es hierbei nicht nur um das Kind oder den Jugendlichen geht, sondern dass bei dieser Analyse auch seine Umgebung, das System, in welchem es sich befindet, dazugehört. Dies alles - einschließlich meine eigene Person - beeinflussen das Verhalten, sind ein Teil davon.

Wenn es notwendig erscheint, bediene ich mich dabei der Pädagogischen Biografiearbeit. Oft ist die persönliche Lebensgeschichte durch Brüche und konfliktreiche Beziehungen gekennzeichnet, welche die weitere Entwicklung beeinflussen. Die Bearbeitung der eigenen Biografie macht deutlich, wer ich bin und woher ich komme. Oft erklären sich aus der Biografie heutiges Verhalten, jetzige Konflikte. Gleichzeitig werden erfolgreich bewältigte Schwierigkeiten erkannt. Bewältigungsstrategien werden verdeutlicht und als Ressource aufgegriffen.

Im Rahmen eines partnerschaftlichen Dialogs versuche ich mit dem Kind oder Jugendlichen ein persönliches Ziel zu entwickeln. Oft meinen wir zu wissen, was das Kind oder der Jugendliche braucht, was der nächste Schritt in der Begleitung, Assistenz oder Förderung sein sollte. Meine Erfahrung ist, dass die selbst (mit Hilfe) erarbeiteten Ziele die beste Chance haben, konsequent verfolgt zu werden.

In der Begleitung des Kindes oder Jugendlichen auf seinem Weg ist es mir wichtig, es dort abzuholen, "wo es steht": bei seinen Möglichkeiten, Fähigkeiten und unter Berücksichtigung seiner Grenzen. Dabei helfen mir die erwähnte "entwicklungsfreundliche Beziehungsgestaltung", Annahme und Wertschätzung meines Gegenübers und unbedingte Verbindlichkeit in der Beziehung. Wo es ihm an innerem Halt durch fehlende oder ungenügende Voraussetzungen mangelt, versuche ich Halt zu geben. Auf dieser Basis können Wege aufgezeigt, Antworten gemeinsam gefunden werden. 


Viele der von mir begleiteten Kinder und Jugendlichen haben u.a. das Problem fehlender Sicherheit und dies insbesondere im Bereich ihrer Beziehungen, sogenannte Beziehungsunsicherheit. Das kann viele verschiedene Gründe haben: In ihrer Entwicklung haben sich die Voraussetzungen noch nicht gebildet oder genügend gefestigt. Es kam zu Brüchen und Trennungen in den vorhandenen Beziehungen, Krisen, Enttäuschungen und vieles mehr. So vielfältig die Ursachen sein können, so unterschiedlich sind die Lösungsansätze. Eines ist allerdings allen gemein: Voraussetzung einer Weiterentwicklung im sozio-emotionalen Bereich ist die Herstellung von Beziehungssicherheit durch eine Bezugsperson. Nach vielen Brüchen ist dies oft recht schwierig. Kindern und Jugendlichen mit solchen Erfahrungen fällt es meist sehr schwer, Vertrauen aufzubauen und Beziehungen zuzulassen. Oft zeigen sie Verhaltensweisen, welche es auch dem Gegenüber, dem Anderen nicht leicht machen, eine Beziehung aufzubauen. So entsteht ein Kreis, durch welchen sich Strukturen und Verhaltensweisen immer weiter festigen, sich bestätigen und oft nichts Neues mehr zulassen. Machtkämpfe kommen dazu und letztendlich bekommt das Kind das Etikett "beziehungsgestört", "aggressiv" und ähnliches.

Wie können hier Wege gefunden werden? Meines Erachtens - und nach meiner Erfahrung - sind (mindestens!) zwei Dinge nötig:

  1. Herstellen von Verbindlichkeit
  2. Ein "ohne-Vorleistung-Angenommensein" vermitteln

Beide Dinge sind miteinander verbunden und ohne einander nicht möglich. Verbindlichkeit ist nicht nur in meinen Aussagen und Handlungen erforderlich, sondern vor allem auch in meiner Beziehungsgestaltung. Das bedeutet für mich "Ich nehme dich an und ernst, so wie du bist. Ich reiche dir meine Hand und werde sie nicht zurückziehen ... egal wie du dich verhältst". Das bedeutet für mich, Beziehungszusagen losgelöst vom Verhalten zu geben. Das bedeutet für mich, mit einem "Ja" zu antworten auf den Ruf "Liebe mich, wenn ich es am wenigsten verdiene, denn dann brauche ich es am nötigsten" (Verf. unbekannt). 

Das geht nur, wenn ich bereit bin, das Kind/ den Jugendlichen ohne eine Vorleistung seinerseits anzunehmen. Ich vermittle ihm: "Meine Beziehung zu dir ist nicht abhängig davon, ob du "lieb" bist, ob du machst, was ich sage". Das bedeutet für mich NICHT, ich akzeptiere das Verhalten, jedes Verhalten, jede Aggression. Das bedeutet für mich NICHT, alles ist ok und wird schon. Das bedeutet für mich NICHT, "Laissez-Faire" und du kannst machen was du willst. Vielmehr geht es darum, das Kind/ den Jugendlichen mit seinen Problemen (wozu auch seine Aggression gehört) anzunehmen. Die Beziehung nicht davon abhängig zu machen.


Problem: 

Da ist nun dieses Kind mit so genanntem "herausfordernden Verhalten". Und je mehr ich Beziehung, Verbindlichkeit, Zusagen anbiete, desto mehr nimmt das Verhalten zu. Also alles falsch? Mitnichten! Bei Kindern, welche massive Beziehungsabbrüche hinter sich haben, welche mehr und mehr Ablehnung aufgrund ihres Verhaltens erfahren, muss ich davon ausgehen, dass diese ob ihrer Erfahrungen es einfach nicht glauben können, wenn man ihnen so begegnet. Sie sind (leider!) meist gewohnt, dass dann doch irgendwann der Punkt kommt, an welchem sie ihres Verhaltens wegen abgelehnt werden. Um sich erneute Enttäuschung zu ersparen und "ihre Theorie" (bzw. Praxiserfahrung) zu bestätigen, suchen sie diesen Punkt (der ja kommen muss!), provozieren ihn, fahren mehr und mehr "Geschütze" auf.

Aber wie hält man dies aus? Und ist es überhaupt möglich, solch ein Kind wie oben beschrieben anzunehmen? Ohne Vorleistung?

Ich denke schon und es lohnt sich! Sicher, es ist oft mühevoll und berührt vielleicht auch immer wieder einmal eigene Grenzen. Aber wenn wir nicht immer wieder die Hand hinreichen - wer dann? Das Kind kommt allein aus diesem Kreis kaum heraus.

Entscheidend ist sicher, dass man sich selbst angenommen weiß. Ohne Vorleistung. Mit seinen Möglichkeiten und Grenzen. Ich selbst schöpfe diese notwendige Kraft aus meinem christlichen Glauben und der Gewissheit, auch in diesen oft schwierigen Begegnungssituationen getragen zu sein und auch nicht alles in der Hand zu haben und haben zu müssen. 
Wichtig ist meines Erachtens ebenfalls, offen für andere und für neue Wege zu bleiben, auch quer zu denken. Konzepte immer wieder einmal über den Haufen zu werfen und seine eigenen Vorstellungen zu überprüfen.

Daher zum Abschluss noch einmal Paul Moor zur Not dieser Kinder:


"Betrachten wir die pädagogische Behandlung, wie wir sie solchen Kindern in unseren Heimen zuteil werden lassen, so erkennen wir, wie sehr sie immer wieder nur auf einen Verbesserungsversuch der Lebensführung und Lebensordnung hinauslaufen, ohne den Funken entzünden zu können, der überhaupt erst die Kraft dazu hergäbe, um all das sinnvoll zu erleben. Manchmal mag die Erziehung sich auf dieses eine hinbewegen; aber sie kennt es zu wenig deutlich, sie spürt es selber nicht in seiner vollen Dringlichkeit und vermag darum nicht durchzudringen. Sie ist selber zu wenig erfasst davon. Die Erzieher im Heim besitzen wohl selber das, was sie dem Kinde in solcher Lage geben sollten; aber sie haben es längst in Formen gefasst, die nur ihrem eigenen Leben angemessen sind, einem gemessenen, gemäßigten, befriedeten Leben. Sie haben wohl Ähnliches erlebt und haben es bestanden; aber nie ist es ihnen in so verheerender Gewalt begegnet, und darum reicht ihre eigene Ergriffenheit nicht an die Not des ihnen anvertrauten Kindes heran. Nur mit einem sanften Glimmen versuchen sie zu wirken, wo es eines lodernden Feuerbrandes bedürfte, um helfen zu können ... Wollen wir einem solchen Kinde helfen, so müssen wir hinabsteigen in die Unfertigkeit seiner Jugend, so müssen wir unsere fertigen Lösungen der Lebensrätsel vergessen, so dürfen wir uns nicht zu schade sein, in seine Verdorbenheit und seine Verirrungen hineinzustehen, als ob es die unseren wären, und müssen bereit sein, den ganzen Weg unter diesen uns oft fast aussichtslos erscheinenden Bedingungen mit dem Kind noch einmal gehen, noch einmal zu suchen. Solange wir von der Not des Kindes nicht ebenso stark ergriffen sind, wie es selber, solange sie uns nicht ruhelos macht und zur Verzweiflung treibt, solange wir nicht mit dem Kind verzweifeln, so lange versuchen wir umsonst, dem Kind zu zeigen, wie man Verzweiflung aushält und überwindet.

Wie viele Kinder begegnen uns, die viel mehr erlebt, viel mehr erlitten, viel mehr zu erdulden und durchzukämpfen haben, als es uns jemals auferlegt war, uns, die wir aus behüteten Verhältnissen stammen, immer erst im reifen Alter an die Probleme herankamen, dazu eine gute Erziehung, eine fähige Begabung, eine glückliche Veranlagung besitzen. Wollen wir ihnen helfen, dann müssen wir vor allem dies wissen, dass wir das meiste, was wir ihnen geben möchten, selber erst noch zu lernen haben in jedem Einzelfall wieder von vorn." (Quelle:  Paul Moor, "Umwelt, Mitwelt, Heimat", Moorgarten Verlag, Zürich, 1963, S. 212 f)

Ist das möglich? Der Anspruch von Paul Moor ist extrem hoch und sicherlich kaum durchgängig zu erreichen. Um sich Stück für Stück darauf zu zu bewegen, ist demnach eine permanente Reflexion des eigenen Handels und der eigenen Haltung notwendig. Paul Moor widmet dieser Notwendigkeit mehrere eigene Kapitel in seinen Büchern: "Von der Selbsterziehung des Erziehers"