Wege finden - Paul Moor über diese Kinder

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"Betrachten wir die pädagogische Behandlung, wie wir sie solchen Kindern in unseren Heimen zuteil werden lassen, so erkennen wir, wie sehr sie immer wieder nur auf einen Verbesserungsversuch der Lebensführung und Lebensordnung hinauslaufen, ohne den Funken entzünden zu können, der überhaupt erst die Kraft dazu hergäbe, um all das sinnvoll zu erleben. Manchmal mag die Erziehung sich auf dieses eine hinbewegen; aber sie kennt es zu wenig deutlich, sie spürt es selber nicht in seiner vollen Dringlichkeit und vermag darum nicht durchzudringen. Sie ist selber zu wenig erfasst davon. Die Erzieher im Heim besitzen wohl selber das, was sie dem Kinde in solcher Lage geben sollten; aber sie haben es längst in Formen gefasst, die nur ihrem eigenen Leben angemessen sind, einem gemessenen, gemäßigten, befriedeten Leben. Sie haben wohl Ähnliches erlebt und haben es bestanden; aber nie ist es ihnen in so verheerender Gewalt begegnet, und darum reicht ihre eigene Ergriffenheit nicht an die Not des ihnen anvertrauten Kindes heran. Nur mit einem sanften Glimmen versuchen sie zu wirken, wo es eines lodernden Feuerbrandes bedürfte, um helfen zu können ... Wollen wir einem solchen Kinde helfen, so müssen wir hinabsteigen in die Unfertigkeit seiner Jugend, so müssen wir unsere fertigen Lösungen der Lebensrätsel vergessen, so dürfen wir uns nicht zu schade sein, in seine Verdorbenheit und seine Verirrungen hineinzustehen, als ob es die unseren wären, und müssen bereit sein, den ganzen Weg unter diesen uns oft fast aussichtslos erscheinenden Bedingungen mit dem Kind noch einmal gehen, noch einmal zu suchen. Solange wir von der Not des Kindes nicht ebenso stark ergriffen sind, wie es selber, solange sie uns nicht ruhelos macht und zur Verzweiflung treibt, solange wir nicht mit dem Kind verzweifeln, so lange versuchen wir umsonst, dem Kind zu zeigen, wie man Verzweiflung aushält und überwindet.

Wie viele Kinder begegnen uns, die viel mehr erlebt, viel mehr erlitten, viel mehr zu erdulden und durchzukämpfen haben, als es uns jemals auferlegt war, uns, die wir aus behüteten Verhältnissen stammen, immer erst im reifen Alter an die Probleme herankamen, dazu eine gute Erziehung, eine fähige Begabung, eine glückliche Veranlagung besitzen. Wollen wir ihnen helfen, dann müssen wir vor allem dies wissen, dass wir das meiste, was wir ihnen geben möchten, selber erst noch zu lernen haben in jedem Einzelfall wieder von vorn." (Quelle:  Paul Moor, "Umwelt, Mitwelt, Heimat", Moorgarten Verlag, Zürich, 1963, S. 212 f)

Ist das möglich? Der Anspruch von Paul Moor ist extrem hoch und sicherlich kaum durchgängig zu erreichen. Um sich Stück für Stück darauf zu zu bewegen, ist demnach eine permanente Reflexion des eigenen Handels und der eigenen Haltung notwendig. Paul Moor widmet dieser Notwendigkeit mehrere eigene Kapitel in seinen Büchern: "Von der Selbsterziehung des Erziehers"