Ursache und Wirkung?

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Problemverhalten, "herausforderndes Verhalten" ... welche Ursachen hat es? Wo kommt es her?

„Die sind so!“, „Das gehört zu seiner Behinderung“, „Der muss einfach mal richtig erzogen werden“, „Sie hat keine Grenzen kennengelernt“, „Der hat wohl seine Medikamente nicht bekommen“ – Sätze, die man im Zusammenhang mit auftretendem Problemverhalten immer wieder hört. Wenn auch in jedem Satz manchmal ein Körnchen Wahrheit steckt, führen diese Aussagen aber auch schnell zu Abstempelungen und Schuldzuweisungen, sind Ausdruck von Hilflosigkeit und Resignation und engen die Sicht ein.

Vielmehr ist es so, dass die Ursachen für ein sogenanntes Problemverhalten, „herausforderndes“ Verhalten, vielfältig und wir es unserem Gegenüber schuldig sind, uns diesen zu nähern, sie zu ergründen. Die Beeinflussung eines Verhaltens setzt eine genaue Analyse und eine entsprechende Erklärungstheorie voraus. Meist kommen mehrere Ursachen zusammen, welche sich gegenseitig bedingen oder verstärken.

Insbesondere bei Menschen mit mehreren Problemfeldern, Einschränkungen in unterschiedlichen Persönlichkeitsbereichen, ist ein genaues Hinschauen besonders wichtig, um nicht voreilig falsche Schlüsse zu ziehen und damit die falschen Konsequenzen einzuleiten. Meist ist es notwendig, dass sich Fachleute unterschiedlichster Disziplinen gemeinsam mit den Angehörigen ein umfassendes Bild machen, um zu einer geeigneten Entstehungstheorie zu gelangen. Insbesondere beim Vorliegen kognitiver Beeinträchtigungen – also einer geistigen Behinderung -, wenn die sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten eingeschränkt sind oder gar fehlen, einer Autismus-Spektrum-Störung, ist dies meines Erachtens besonders wichtig.

Viel zu früh wird oft resigniert oder vorschnell medikamentös behandelt oder eine sinnvolle medikamentöse Therapie unterlassen. Es werden Konsequenzen eingeleitet, für welche die Einsichtsfähigkeit fehlt oder notwendige Grenzen nicht aufgezeigt…

Welche Ursachen für ein Problemverhalten lassen sich oft finden bzw. sollten ausgeschlossen werden? Die folgende Aufzählung erhebt selbstverständlich keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit, vielmehr handelt es sich um die Ursachen, welche mir persönlich in meiner beruflichen Praxis immer wieder begegneten. Die tatsächliche Vielfalt ist um einiges größer und die folgenden Ursachen sollen lediglich einen kleinen Einblick in diese geben und zum genauen Hinsehen und Nachdenken anregen.


 So banal es klingt, aber gerade bei Menschen mit einer geistigen Behinderung, insbesondere wenn auch die sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten eingeschränkt sind und das Problemverhalten vielleicht auch noch „plötzlich“ auftritt, sind in erster Linie körperliche Ursachen auszuschließen! Schmerzen, Unwohlsein, Magen-Darm-Probleme können Auslöser plötzlicher Aggressionen oder Selbstverletzungen sein. Wenn ich nicht weiß, was in meinem Körper vorgeht, wenn ich es nicht einordnen und beschreiben kann, wenn ich mein Gegenüber nicht informieren kann, so löst dies oft Verzweiflung oder Wut aus. Schmerzen in den Gelenken – z. Bsp. auch bei Übergewicht -, ein eingewachsener Nagel kombiniert mit der Aufforderung zum Spaziergang kann ebenso solche Reaktionen auslösen.

Körperliche Ursachen können sehr vielfältig, chronisch und manchmal versteckt sein. Umso mehr ist es wichtig, diese Überlegungen anzustellen, bevor ein vermeintliches Problemverhalten therapiert oder medikamentös behandelt wird, zumal dann die Ursache weiter bestehen würde.

Nebenwirkungen von Medikamenten, „komische Gefühle“ des Körpers, welche man nicht in Worte fassen kann, können sich ebenfalls in plötzlich auftretenden Verhaltensweisen widerspiegeln.

Psychische Störungen: Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen können, wie jeder andere auch, an psychischen Erkrankungen leiden. Diverse Studien belegen, dass dies sogar häufiger vorkommt, als bei Menschen ohne kognitive Beeinträchtigungen. Da die Diagnosen zu einem großen Teil über das mitgeteilte Erleben und Verhalten der Person gestellt wird, erklären sich die Schwierigkeiten, bei diesem Personenkreis eine Diagnose rechtzeitig zu stellen. Leider sind auch Fachleute auf diesem Gebiet noch recht dünn gesät.

Darüber hinaus gibt es genetische Erkrankungen, bei denen bestimmte Verhaltensweisen – auch Problemverhalten – vermehrt auftreten. Man spricht in diesem Fall von sogenannten „Verhaltensphänotypen“. Dazu zählen u.a. das „fragiles-X-Syndrom“, „Prader-Willi-Syndrom“, „Cornelia-de-Lange-Syndrom“, „Rett-Syndrom“, „Smith-Magenis-Syndrom“. Das Vorliegen erzwingt zwar nicht zwangsläufig ein bestimmtes Verhalten, in bestimmten Wechselwirkungen treten besondere Verhaltensweisen jedoch gehäuft auf.


Verhalten – auch Problemverhalten – ist oft eine Reaktion auf eine (unpassende) Umwelt. Über- oder Unterforderung, Verunsicherungen, unklare Strukturen, Kommunikationsschwierigkeiten oder -missverständnisse rufen entsprechende Reaktionen hervor, welche für uns vielleicht unverständlich und sinnlos erscheinen. Für denjenigen aber sind sie oft subjektiv sinnvoll, eine Kompetenz, eine Bewältigungsstrategie. In diesem Sinne ist dieses Verhalten oft in der Wechselbeziehung mit der Umwelt erlernt und die ursprünglichen Auslöser manchmal gar nicht mehr unmittelbar erkennbar. Hier gilt es, den subjektiven Sinn zu erschließen. Dies ist oft nicht einfach. Es gilt, auch mal „quer“ zu denken, „unorthodoxe“ Erklärungsmodelle zuzulassen und unsere eigene Logik hintenanzustellen. Zum Beispiel fragt man sich, warum jemand ein bestimmtes Verhalten aufrechterhält, obwohl es vielleicht ständig sanktioniert, bestraft wird. Und verkennt dabei vielleicht, dass derjenige Zuwendung und Ansprache erhält. In negativer Form zwar, aber wenn er ansonsten an einem Mangel in diesem Grundbedürfnis leidet, ist dies vielleicht (derzeit) die einzige ihm mögliche Form, dieses Bedürfnis zu befriedigen.

Um mich dem subjektiven Sinn eines Verhaltens zu nähern, gehe ich in meiner Begleitung aus von bestimmten Grundannahmen aus.


Ein Grundsatz der (Heil-)Pädagogik ist, den Menschen dort abzuholen, wo er steht. Dies bedeutet, im pädagogischen Vorgehen sowie bei der Erstellung von Erklärungsmodellen, den jeweiligen individuellen Entwicklungsstand zu berücksichtigen.

Im Bereich der kognitiven und psychomotorischen Entwicklung gelingt dies meist sehr gut. So käme man sicherlich nicht auf die Idee, von einem Kind, welches die Buchstaben noch nicht erlernt hat, das Vorlesen einer Tageszeitung zu verlangen. Mit jemand, bei welchem eine Lähmung der Beine vorliegt, wird man nicht das Treppensteigen trainieren.

Ganz anders sieht es (leider!) immer noch im Bereich der sozio-emotionalen Entwicklung aus. Durch Nicht- oder Fehleinschätzungen kommt es in diesem Bereich immer wieder zu Überforderungen. Zu wenig wird dies immer noch (auch in Fachkreisen) missachtet. Mit der (fachlich richtigen!) Abwendung von Zuschreibungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung wie „er ist auf dem Entwicklungsstand eines 6-jährigen“, der Berücksichtigung der altersentsprechenden Bedürfnisse und Würde sowie dem Paradigmenwechsel in der Heilpädagogik hin zu Selbstbestimmung und Autonomie, verschloss man teilweise den Blick auf vorliegende Tatsachen.

Man weiß seit langem, dass Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen dieselben Entwicklungsphasen durchlaufen, wie jeder andere auch. Allerdings verläuft diese Entwicklung oft langsamer, verzögert oder unvollständig ab.

Man weiß ebenfalls, dass diese Entwicklung oft disharmonisch verläuft. Das heißt, dass ein Mensch mit solchen Beeinträchtigungen einen sehr unterschiedlichen Entwicklungsstand in den einzelnen Persönlichkeitsbereichen haben kann.

Dies hat sowohl Konsequenzen für die Herleitung von Erklärungsmodellen für auffälliges Verhalten, als auch für die pädagogische Begleitung. So hat ein Erwachsener  mit 30 Jahren natürlich die Bedürfnisse eines 30jährigen, das Recht auf entsprechende Würde und Ansprache. Das kognitive „Entwicklungsalter“ entspricht vielleicht dem eines 10-jährigen und muss in der Begleitung und Assistenz berücksichtigt werden. Wenn die sozio-emotionale Entwicklung der Phase eines 4-jährigen entspricht und dort stehen geblieben ist, hat dies große Auswirkungen auf die notwendige Beziehungsgestaltung  und die möglichen Anforderungen z.B. an eine Krisenbewältigung.

Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: So käme man (hoffentlich) nicht auf die Idee, ein 3-jähriges Kind, welches verzweifelt schreit, weil vielleicht sein Spielzeug kaputt ging oder nicht auffindbar ist, in sein Zimmer zu schicken mit der Aufforderung „Wenn du dich beruhigt hast, kannst du wieder herauskommen“. Intuitiv weiß man als Eltern, dass dieses Kind die momentane Krise so nicht bewältigen kann. Vielmehr wird es verständnisvoll in den Arm genommen, getröstet. Man weiß, hier bricht gerade eine komplette Welt für das Kind zusammen und gemeinsam - in der emotionalen Einheit mit der Bezugsperson - ist dieses Kind in der Lage, diese Krise zu bewältigen. Bei einem 12/13-jährigem oder gar einem Erwachsenen fehlt oft dieses Verständnis. Das gezeigte Verhalten wird als unangepasst eingestuft, als „herausforderndes Verhalten“ deklariert, obwohl derjenige aufgrund seines Entwicklungsstandes ebenfalls derzeit keine andere Möglichkeit zur Krisenbewältigung hat.

Obwohl schon BARBARA SENCKEL 1994 ein Konzept zur „entwicklungsfreundlichen Beziehungsgestaltung“ entwickelt hat, scheint diese Erkenntnis in der Heilpädagogik und auch in der Bewertung von Verhaltensauffälligkeiten immer noch eine untergeordnete Rolle zu spielen. Seit einigen Jahren hält - offensichtlich mit ähnlich geringem Erfolg - das Konzept der „Entwicklungsdynamischen Beziehungstherapie“ von Anton Došen Einzug, welches einen ähnlichen Ansatz verfolgt.

Fachleute, welche sich damit beschäftigen, konnten nachweisen, dass Verzögerungen in der sozio-emotionalen Entwicklung vermehrt zu Verhaltensauffälligkeiten führen und dass diese bei einem entsprechenden entwicklungsstandsgerechtem  Beziehungsangebot gut beeinflussbar sind.


Was heißt dies nun für die Praxis?

Verhaltensauffälligkeiten, Verhaltensstörungen, Problemverhalten, „herausforderndes Verhalten“ FORDERN UNS HERAUS!

Sie können vielfältige Ursachen haben. Meist liegt meiner Erfahrung nach eine Kombination verschiedenster Ursachen vor. Zu schnell werden Medikamente zur „Behandlung“ von Verhaltensauffälligkeiten eingesetzt oder verteufelt. Zu schnell werden z. Bsp. körperliche Ursachen übersehen oder nicht einkalkuliert. Zu schnell werden Hypothesen gebildet und gehandelt.

Aufgrund der Vielschichtigkeit ist es wichtig, ein für denjenigen und die Umwelt problematisches Verhalten aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln zu betrachten, sich zusammenzusetzen - Angehörige, Ärzte, Therapeuten, Pädagogen usw. - und GEMEINSAM Entstehungs- und Arbeitshypothesen aufzustellen und dann entsprechende Konsequenzen abzuleiten. Erkrankungen sind auszuschließen (oder zu behandeln), die Lebens- und Lerngeschichte ist ebenso zu betrachten wie die Umwelt und die vorhandenen Strukturen, in denen der Mensch lebt. Um ein entwicklungsorientiertes Vorgehen sicher zu stellen, ist die Methodik auf den jeweiligen individuellen Entwicklungsstand - insbesondere auch im Bereich der sozio-emotionalen Entwicklung, abzustimmen.

Insbesondere beim Zusammentreffen mehrerer Probleme in der Persönlichkeitsentwicklung, also zum Beispiel dem Vorliegen einer Sprachentwicklungsverzögerung, einer Autismus-Spektrum-Störung, einem zusätzlichen Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom bei einer kognitiven Beeinträchtigung, können sogenannte Verhaltensauffälligkeiten eine Vielzahl von Gründen haben, welche sich gegenseitig bedingen und/oder verstärken.

Dieses „interdisziplinäre“ Vorgehen bleibt in der Praxis leider noch viel zu oft auf der Strecke. Aber um den „Betroffenen“ gerecht werden zu können, sind wir ihm diese mehrdimensionale Betrachtung schuldig.

Als Pädagoge liegt mein Schwerpunkt in der Begleitung von Kindern und Jugendlichen im Bereich nicht-medizinischen Ursachen. Meinen Zugang dazu finden Sie hier:

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