Ursache und Wirkung? - Emotionale Entwicklung
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Ein Grundsatz der (Heil-)Pädagogik ist, den Menschen dort abzuholen, wo er steht. Dies bedeutet, im pädagogischen Vorgehen sowie bei der Erstellung von Erklärungsmodellen, den jeweiligen individuellen Entwicklungsstand zu berücksichtigen.
Im Bereich der kognitiven und psychomotorischen Entwicklung gelingt dies meist sehr gut. So käme man sicherlich nicht auf die Idee, von einem Kind, welches die Buchstaben noch nicht erlernt hat, das Vorlesen einer Tageszeitung zu verlangen. Mit jemand, bei welchem eine Lähmung der Beine vorliegt, wird man nicht das Treppensteigen trainieren.
Ganz anders sieht es (leider!) immer noch im Bereich der sozio-emotionalen Entwicklung aus. Durch Nicht- oder Fehleinschätzungen kommt es in diesem Bereich immer wieder zu Überforderungen. Zu wenig wird dies immer noch (auch in Fachkreisen) missachtet. Mit der (fachlich richtigen!) Abwendung von Zuschreibungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung wie „er ist auf dem Entwicklungsstand eines 6-jährigen“, der Berücksichtigung der altersentsprechenden Bedürfnisse und Würde sowie dem Paradigmenwechsel in der Heilpädagogik hin zu Selbstbestimmung und Autonomie, verschloss man teilweise den Blick auf vorliegende Tatsachen.
Man weiß seit langem, dass Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen dieselben Entwicklungsphasen durchlaufen, wie jeder andere auch. Allerdings verläuft diese Entwicklung oft langsamer, verzögert oder unvollständig ab.
Man weiß ebenfalls, dass diese Entwicklung oft disharmonisch verläuft. Das heißt, dass ein Mensch mit solchen Beeinträchtigungen einen sehr unterschiedlichen Entwicklungsstand in den einzelnen Persönlichkeitsbereichen haben kann.
Dies hat sowohl Konsequenzen für die Herleitung von Erklärungsmodellen für auffälliges Verhalten, als auch für die pädagogische Begleitung. So hat ein Erwachsener mit 30 Jahren natürlich die Bedürfnisse eines 30jährigen, das Recht auf entsprechende Würde und Ansprache. Das kognitive „Entwicklungsalter“ entspricht vielleicht dem eines 10-jährigen und muss in der Begleitung und Assistenz berücksichtigt werden. Wenn die sozio-emotionale Entwicklung der Phase eines 4-jährigen entspricht und dort stehen geblieben ist, hat dies große Auswirkungen auf die notwendige Beziehungsgestaltung und die möglichen Anforderungen z.B. an eine Krisenbewältigung.
Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: So käme man (hoffentlich) nicht auf die Idee, ein 3-jähriges Kind, welches verzweifelt schreit, weil vielleicht sein Spielzeug kaputt ging oder nicht auffindbar ist, in sein Zimmer zu schicken mit der Aufforderung „Wenn du dich beruhigt hast, kannst du wieder herauskommen“. Intuitiv weiß man als Eltern, dass dieses Kind die momentane Krise so nicht bewältigen kann. Vielmehr wird es verständnisvoll in den Arm genommen, getröstet. Man weiß, hier bricht gerade eine komplette Welt für das Kind zusammen und gemeinsam - in der emotionalen Einheit mit der Bezugsperson - ist dieses Kind in der Lage, diese Krise zu bewältigen. Bei einem 12/13-jährigem oder gar einem Erwachsenen fehlt oft dieses Verständnis. Das gezeigte Verhalten wird als unangepasst eingestuft, als „herausforderndes Verhalten“ deklariert, obwohl derjenige aufgrund seines Entwicklungsstandes ebenfalls derzeit keine andere Möglichkeit zur Krisenbewältigung hat.
Obwohl schon BARBARA SENCKEL 1994 ein Konzept zur „entwicklungsfreundlichen Beziehungsgestaltung“ entwickelt hat, scheint diese Erkenntnis in der Heilpädagogik und auch in der Bewertung von Verhaltensauffälligkeiten immer noch eine untergeordnete Rolle zu spielen. Seit einigen Jahren hält - offensichtlich mit ähnlich geringem Erfolg - das Konzept der „Entwicklungsdynamischen Beziehungstherapie“ von Anton Došen Einzug, welches einen ähnlichen Ansatz verfolgt.
Fachleute, welche sich damit beschäftigen, konnten nachweisen, dass Verzögerungen in der sozio-emotionalen Entwicklung vermehrt zu Verhaltensauffälligkeiten führen und dass diese bei einem entsprechenden entwicklungsstandsgerechtem Beziehungsangebot gut beeinflussbar sind.